BAG stärkt Teilzeitbeschäftigte, 29.04.2025

BAG stärkt Teilzeitbeschäftigte: Benachteiligung bei Vorruhestandsgeld durch überlange Mischrechnung unzulässig

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. April 2025 – 9 AZR 287/24

 

I. Einleitung und Hintergrund

 

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seinem Urteil vom 29. April 2025 (Az.: 9 AZR 287/24) eine wichtige Entscheidung zur Berechnung von Vorruhestandsgeld für teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer getroffen. Im Kern stritten die Parteien über die korrekte Höhe eines Vorruhestandsentgelts, das der Klägerin aufgrund eines Sozialplans nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis bis zum Eintritt in die gesetzliche Altersrente zusteht. Das Urteil hat weitreichende Implikationen für die Gestaltung von Sozialplänen und das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitkräften nach § 4 Abs. 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG).

 

II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

 

Die im Jahre 1966 geborene Klägerin war seit dem 1. September 1982 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Zigarettenindustrie, beschäftigt. Ihre Tätigkeit umfaßte auch eine Phase der Teilzeitbeschäftigung vom 1. Juli 2007 bis zum 31. Dezember 2012 (80 vH Beschäftigungsgrad), bevor sie am 1. Januar 2013 zu einer Vollzeitbeschäftigung zurückkehrte. Zuletzt bezog sie Vergütung nach der Tarifgruppe/-stufe 015A/7 des Entgelttarifvertrags.

 

Auf das Arbeitsverhältnis fand kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der Cigarettenindustrie (MTV) Anwendung, welcher Regelungen zum Vorruhestand enthielt. Gemäß § 14 Nr. 4 Abs. 2 MTV war vorgesehen, daß bei Arbeitnehmern, die ganz oder zeitweise teilzeitbeschäftigt waren, das normale Arbeitsentgelt eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers "in dem Verhältnis, in dem die Arbeitszeit des Arbeitnehmers während seiner gesamten Dienstzeit zu der Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers gestanden hat, verringert und als normales Arbeitsentgelt zugrunde gelegt (Mischrechnung)" wird.

Auf Grundlage eines unter dem 27. November 2019 geschlossenen Sozialplans, der die tarifliche Vorruhestandsregelung erweiterte, trafen die Parteien im Juli 2022 eine Vorruhestandsvereinbarung. Die Klägerin trat am 1. April 2023 in den Vorruhestand. Die Beklagte ermittelte das Vorruhestandsgeld im Wege der Mischrechnung nach den genannten Regelungen, was zu einem geringeren Betrag führte, als die Klägerin beanspruchte.

 

Die Klägerin vertrat die Auffassung, ihr stehe Vorruhestandsentgelt in ungekürzter Höhe von 70 vH des letzten normalen Arbeitsentgelts zu. Die Mischrechnung benachteilige sie unzulässig wegen ihrer Teilzeitbeschäftigung. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht Hamburg hatten die Klage abgewiesen.

 

III. Die Entscheidung des BAG – Kernaussagen und Begründung

 

Das BAG gab der Revision der Klägerin überwiegend statt. Es stellte fest, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. April 2023 bis zum 30. Juni 2025 monatlich ein Vorruhestandsgeld in Höhe von 65,6 Prozent eines Vollzeitgehalts zu zahlen. Die weitergehende Klage war unbegründet.

 

1. Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten (§ 4 Abs. 1 TzBfG)

 

Der 9. Senat des BAG urteilte, daß die in dem Sozialplan vorgesehene Mischrechnung gegen das Verbot der Benachteiligung von in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmern nach § 4 Abs. 1 TzBfG verstößt, "soweit bei der Ermittlung des Beschäftigungsgrads, der neben dem letzten „normalen“ Arbeitsentgelt für die Höhe des Vorruhestandsentgelts maßgebend ist, auch dann auf die gesamte individuelle Dienstzeit abstellt, wenn diese 15 Jahre übersteigt".

 

Das Gericht betonte, daß eine Ungleichbehandlung vorliegt, wenn die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft. Dies sei hier der Fall, da die Mischrechnung notwendigerweise zu einer Minderung des Anspruchs auf Vorruhestandsentgelt führt, wenn der Arbeitnehmer zu irgendeinem Zeitpunkt teilzeitbeschäftigt war.

 

2. Abgrenzung zur betrieblichen Altersversorgung (bAV) und fehlende sachliche Rechtfertigung

 

Das BAG widersprach der Auffassung der Vorinstanzen, die die Regelung mit den Grundsätzen der betrieblichen Altersversorgung gleichsetzten. Es stellte klar, daß die unmittelbar auf der Teilzeitbeschäftigung beruhende Ungleichbehandlung nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist.

 

Das Gericht führte aus, daß "das Vorruhestandsentgelt gemäß der Vorruhestandsregelung nach Nr. 5.1 des Sozialplans vom 27. November 2019 ist dagegen keine der betrieblichen Altersversorgung entsprechende Leistung, die der Arbeitnehmer durch die Betriebszugehörigkeit im gesamten Arbeitsverhältnis erdient". Im Gegensatz zur bAV, wo die "Lebensleistung" honoriert wird, dient das Vorruhestandsgeld als "Übergangsversorgung". Es soll "Versorgungslücken, die mit dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersrente einhergehen," ausgleichen und den "Lebenszuschnitt" in einem bestimmten Zeitraum vor Eintritt in den Vorruhestand widerspiegeln.

 

Zitat: "Die Ausrichtung des Versorgungsniveaus an dem zu sichernden Lebenszuschnitt in der konkret vorliegenden Ausgestaltung schließt es aus, für die Bemessung des Vorruhestandsentgelts auf den Beschäftigungsgrad während des gesamten Arbeitsverhältnisses abzustellen."

 

Das BAG betonte, daß ein Referenzzeitraum, der die gesamte Dienstzeit berücksichtigt, "keinen sachgerechten inneren Zusammenhang zu den wirtschaftlichen Nachteilen aufweist, die durch die Übergangsversorgung ausgeglichen werden sollen". Anknüpfungspunkt könne "nur das Arbeitsentgelt unter Berücksichtigung des Beschäftigungsgrads in einem bestimmten Zeitraum vor Eintritt in den Vorruhestand sein, und nicht die gesamte „Lebensleistung“ im Arbeitsverhältnis".

 

3. Teilunwirksamkeit der Regelung (§ 139 BGB)

 

Aufgrund des eindeutigen Wortlauts, der auf die "gesamte Dienstzeit" abstellt, konnte die Regelung nicht gesetzeskonform ausgelegt werden. Jedoch führte der Verstoß nicht zur Gesamtnichtigkeit der Vorruhestandsregelung im Sozialplan. Das BAG entschied, daß die Regelung "teilunwirksam" ist, "soweit darin - je nach individueller Dienstzeit - auf einen 15 Jahre übersteigenden Referenzzeitraum abgestellt wird".

 

Der verbleibende Teil bleibt aufrechterhalten, "soweit die letzten 15 Jahre ihrer Beschäftigung in Rede steht". Dieser Zeitraum von 15 Jahren sei sachlich gerechtfertigt, da er der anspruchsbegründenden Mindestbetriebszugehörigkeit entspreche und eine verlässliche Bestimmung des Lebensstandards erlaube.

 

IV. Fazit und Implikationen für die Praxis

 

Das Urteil des BAG stärkt die Rechte von Arbeitnehmern in Teilzeit erheblich und stellt eine wichtige Klarstellung für die Gestaltung von Sozialplänen dar. Es betont, daß Übergangsversorgungen wie das Vorruhestandsgeld den Lebenszuschnitt unmittelbar vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sichern sollen, und nicht die gesamte "Lebensleistung" wie bei Betriebsrenten. Eine pauschale Mischrechnung, die über den relevanten Zeitraum (hier: die letzten 15 Jahre, entsprechend der Mindestbetriebszugehörigkeit) hinausgeht, ist unzulässig und diskriminierend.

 

Für Arbeitnehmer bedeutet dies, daß ihre Ansprüche auf Vorruhestandsgeld nicht unangemessen gekürzt werden dürfen, nur weil sie in früheren Phasen ihrer Karriere in Teilzeit tätig waren. Für Arbeitgeber und Betriebsräte bedeutet das Urteil eine klare Handlungsanweisung, die Berechnungsmodalitäten in Sozialplänen und Tarifverträgen präzise zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen, um Diskriminierungen zu vermeiden. Diese Entscheidung trägt wesentlich zu einem gerechteren Ausgleich im Arbeitsleben bei, insbesondere für diejenigen, die Phasen der Teilzeitarbeit, oftmals aus familiären Gründen, in Anspruch genommen haben.

Forschungsstelle für Arbeits- und Antidiskriminierungsrecht - Herfterather Mühle, Herfterath 61, 53804 Much

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